Dienstag, 17. Oktober 2017

Wer wie was wieso weshalb warum

Die Älteren unter uns kennen dieses Lied aus der Sesamstraße (ich bin mit der Muppetshow aufgewachsen - an die Sendung mit Paul Simon kann ich mich heute noch erinnern, und das will was heißen), die ab 1973 im deutschen Fernsehen lief. Die erste Strophe war
 
      Der, die, das, 
      wer, wie, was,
      wieso, weshalb, warum, 
      wer nicht fragt, bleibt dumm.

Ganz so einfach wie damals ist die Welt heute nicht mehr. Ab dem Abitur 2019 sind "W-Fragen" im baden-württembergischen Mathematik-Abitur verboten. Man kann jetzt also nicht mehr wie 2015 fragen:

     Welchen Abstand von der Hauswand darf die Stablampe 
     auf der Terrasse höchstens haben?

Das wäre eine W-Frage. Schlimm.

Im neuen Abitur werden diese üblen W-Fragen durch Operatoren ersetzt:

    Berechnen Sie den Abstand von der Hauswand, den die Stablampe
    auf der Terrasse hochstens haben darf.

Dabei sind die Wörter "wie" usw. nicht ganz verboten. Es ist beispielsweise erlaubt, die alte Frage

     Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?

in die neue Frage

     Bestimmen Sie, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist.

zu verwandeln. Wichtig ist, soviel habe ich verstanden, dass keine Fragen mehr gestellt, sondern Befehle erteilt werden. Das ist mit dem Bild des Schülers als zu programmierendes Rädchen im künftigen Wirtschaftsbetrieb wohl eher zu vereinbaren als irgendwelche Fragen zu stellen. Man möchte wohl auch nicht suggerieren, die Aufgabensteller würden die Antwort nicht kennen.

Und wie man uns auf der jüngsten Fortbildung (ein seltsames Wort für eine Veranstaltung, bei der man in der Tat "fort" fährt, die aber mit Bildung nicht wirklich etwas zu tun hat) glaubhaft versichert hat, sind die Verlage, die Übungsbücher für das Abitur herausgeben, angehalten, die alten Aufgaben umzuschreiben und die W-Fragen zu entfernen. Wirklich schlimm ist das wohl nicht, denn die Aufgabensammlungen enthalten ohnehin nicht mehr die Originalaufgaben, weil diese bereits wiederholt modifiziert worden sind: Seit 2012 ist so viel Stoff weggefallen, dass man die neuen Schüler mit den alten Aufgaben nur nervös machen würde. Vermutlich weiß in 20 Jahren niemand mehr, welche Aufgaben wirklich im Abitur 2015 dran gewesen sind, weil sie bis dahin ein Dutzend Mal umgeschrieben worden sind. Zyniker mag das an Orwells 1984 erinnern, wo die Geschichtsbücher ebenfalls laufend "aktualisiert" wurden.

Nun ja. Baden-Württemberg kann sich gegen die Operatoren nicht wehren, weil die bundesweit gelten und die Aufgaben ja seit 2016 aus dem Pool kommen. Oder eher ab 2017, weil es 2016 keine Poolaufgabe ins baden-württembergische Abitur geschafft hat. Auch gegen den Terminplan bei der Korrektur kann sich BW nicht wehren - zum zweiten Mal hintereinander haben mein Kollege und ich also 40 Abituraufgaben in 5 Tagen zu korrigieren. Ich habe das RP bereits wissen lassen, dass ich dieses Jahr beim Korrigieren krank werden werde.

Es ist nun aber nicht so, dass unser Land nur Erfüllungsgehilfe des IQB wäre. Es gibt nämlich einen Punkt, bei dem sich BW erfolgreich gegen die preussische Dominanz gewehrt hat: während anderswo die Bepunktung des Abiturs mit 120 Berechnungseinheiten (BE) durchgeführt wird, beharrt BW auf seinen Verrechnungspunkten (VP). Vergibt also das IQB für die richtige Lösung einer Aufgabe 3 BE, dann ist das in BW genau 1,5 VP wert. Viertel Verrechnungspunkte, das hat man uns versprochen, wird es aber vorläufig nicht geben: No pasaran!

Zu diesem ganzen Wahn fällt mir der Spruch meines Namenskollegen Lemmy ein:

      "Ich habe viel Ähnlichkeit mit Buddha, jawohl. Ich sitze nur da und 
        sehe zu, wie die ganze Scheiße vorbeizieht."

Die Anspielung auf ein Lied der Stones erkennt man allerdings nur im englischen Original:

      "I'm very Buddha, me, I sit and watch the shit go by."

Und was hilft beim Zusehen mehr als zwei ruhige Videos aus der Muppetshow mit Paul Simon? Voila, Scarborough Fair:


und Long long day:



Nachtrag 22.10.2017: Im ersten Übungsblatt zur linearen Algebra an der Uni Münster lesen wir:

      Die Verben "angeben, nennen, berechnen, beschreiben, erstellen, 
      darstellen, skizzieren, zeichnen, graphisch darstellen, bestimmen, 
      ermitteln, entscheiden, erklären, herleiten, interpretieren, untersuchen, 
      prüfen, vergleichen, zeigen, nachweisen, beurteilen, beweisen und 
      widerlegen'', denen im Rahmen der Kompetenzorientierung an den 
      Schulen eine künstlich eingeschränkte Bedeutung verpasst wurde, 
      sollten immer so verstanden werden, wie das aus mathematischer 
      Sicht sinnvoll ist.

Dazu fällt mir dann nur noch das hier ein:

1 Kommentar:

  1. Es ist einfach grausig: Wenn ich früher die Aufgabe so gestellt habe: "Wie groß ist der minimale Abstand der Graphen der Funktionen f und g?", war das eine klare Ansage und meine Schüler wussten, was zu tun ist. Heutzutage fragen die Schüler als erstes: Ist der Taschenrechner erlaubt? Darf das Grafikmenü benutzt werden? Muss ich den Lösungsweg aufschreiben? Wenn ja, warum? Muss ich die verwendeten Menüpunkte des Taschenrechners aufschreiben?
    Das Ganze wird garniert mit immer wiederkehrenden Diskussionen um die Bedeutung der Operatoren "Berechnen Sie", "Bestimmen Sie", "Ermitteln Sie" usw. usf. Auf der Strecke bleibt die Mathematik.
    In der Tat: Auch ich denke immer häufiger an Orwells 1984.

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